In den 55 Jahren meines bisherigen Beraterlebens gab es viel konjunkturelles Auf und Ab, was immer wieder neue Anforderungen an die Beratung bedingte. Dabei wurde auch mein Credo als Entwicklungsberater vor grundsätzliche Dilemmata gestellt. Einige der wichtigsten spreche ich jetzt an.
Dilemma 1: Wie gelingt den Klient:innen eine authentische Zielfindung? Oft war ich erstaunt, dass die maßgeblichen Menschen im Klientensystem keine klare Vorstellung hatten, wohin die von ihnen angefragte Beratung führen sollte. Einige schlugen deshalb vor, ich könnte ihnen aufgrund meiner Beratungserfahrung mit anderen Organisationen sicher überzeugende Visionen und Ziele liefern – auch wenn diese nicht ganz ihre eigenen wären. In solchen Situationen musste ich mich darauf besinnen, dass das Wollen der Menschen weitgehend in tieferen, unterbewussten seelischen Bereichen wurzelt. Deshalb kann nur die Verbindung rationaler und intuitiver Arbeitsformen hilfreich sein, Ziele ins Bewusstsein zu heben. Und nachdem das gelungen ist, habe ich als Entwicklungsberater Fragen zu unbequemen Themen zu stellen und auf mögliche Konsequenzen von Entscheidungen zu schauen, die gerne ausgeblendet werden. Erst dann können die Entscheider:innen Verantwortung übernehmen für ihre Ziele und die Unternehmensentwicklung ist ihre Entwicklung.
Dilemma 2: Wie gehen Berater:innen mit ihren Konzepten und Methoden um? Als vor vielen Jahren Trude Kalcher, Hannes Piber und ich das Buch „Professionelle Prozessberatung“ herausgaben, publizierten wir darin verschiedene Trigon-Organisationsmodelle, Prozesskonzepte und praktische Methoden so konkret, dass Leser:innen sie selbständig anwenden können. Da schrieb mir der Berater einer konkurrierenden Consultingfirma und fragte, wie man nur so dumm sein kann, so billig seine Produktionsmittel zur Verfügung zu stellen, dadurch werde ja keine Beratung mehr gebraucht. Meine Antwort war, dass unsere wissenschaftsgestützten Modelle und Methoden uns Berater:innen ermöglichen, in der komplexen sozialen Wirklichkeit mit den Klient:innen ein Vorgehen zu finden, das ihrer Einmaligkeit gerecht wird. Aber es ist uns gleichermaßen wichtig, unser kognitives Rüstzeug nicht als Geheimwissenschaft zu hüten, sondern den Klient:innen für selbstständiges Arbeiten zur Verfügung zu stellen. Das soll sie befähigen die Denkmodelle zu reflektieren, nach denen sie ihre Organisation im Laufe der Zeit – bewusst oder implizit – gestaltet haben. So können sie periodisch selbstkritisch hinterfragen, inwieweit ihre bestehende Organisation noch den gegenwärtigen externen und internen Anforderungen entspricht. Das ermöglicht ihnen, Führung und Organisation übereinstimmend mit ihrer Sinn- und Wertorientierung zu gestalten und zu entscheiden, ob sie sich von Beratung unterstützen lassen und wofür. Denn die Befähigung von Menschen und Organisationen zur Selbsterneuerung ist das oberste Ziel der Entwicklungsberatung.