Trigon Themen 02|2016

Selbststeuerung in Organisationen

Die Wiederentdeckung der selbststeuernden Teams

von Ingrid Kohlhofer

Was haben die Deutsche Bahn Südostbayern, Heiligenfeld (psychosomatische Klinik in Bad Kissingen) und Banner (Kunststoffwerk in Linz) gemeinsam: sie setzen auf selbststeuernde Teams.

Selbststeuernde Teams sind keine neue Idee. Bereits 1993 beschreibt der brasilianische Unternehmer Ricardo Semler in seinem Buch Das Semco System Selbstorganisation und Mitbestimmung auf beeindruckende Weise (siehe auch Artikel von W. Grilz in dieser Ausgabe). Unter Semlers Leitung stieg der Umsatz von vier Millionen US-Dollar im Jahr 1982 auf 212 Millionen 2003 (eine Steigerung von 21 % p.a.). Die Anzahl der Beschäftigten stieg von 90 auf 3.000.

Die MIT Forscher Womack/Jones/Roos fanden in ihrer Studie Lean Production bei japanischen Automobilherstellern, die sie 1985 bis 1991 durchführten, heraus, dass einewenig hierarchische Arbeitsorganisation viele Vorteile bringt und bereiteten so den Weg für den Durchbruch der teilautonomen Gruppenarbeit.

In den letzten Jahrzehnten schien diese Form der selbstorganisierten Arbeit etwas außer Mode geraten zu sein. Nun bahnt sich ein Revival an. Ein Indikator: 2014 verkaufte sich die englische Ausgabe des – selbst finanzierten – Buchs von Frederic Laloux Reinventing Organisations binnen Wochen 10.000 Mal. Darin wird Selbstführung/Arbeit in selbstverantwortlichen Teams als einer der drei Durchbrüche im Vergleich zu bisher vorherrschenden Arbeitsmodellen beschrieben.

Eine immer komplexere, digitalisierte und volatilere Welt (VUCA) braucht Organisationen, die sich schnell und konsequent an Veränderungen anpassen bzw. neue Chancen erkennen, innovativ sind und agieren statt reagieren können. Agilität und souveränes Umgehen mit höherer Dynamik oder disruptiven Technologien und Geschäftsmodellen setzen Eigenverantwortung bei Führungskräften und MitarbeiterInnen voraus. Selbstorganisation wird so wieder zu einem festen Begriff in den Arbeitswelten 4.0.

Also einfach mal die Organisation umkrempeln? Weg von der klassischen Hierarchie hin zu selbstgesteuerten hierarchiefreien Teams? Jeder ist für alles verantwortlich und bringt sich ein, wann und wie er/sie es möchte? Führung ist nicht mehr nötig und die Teams steuern sich wie von selbst? Es braucht dazu nur guten Willen, Vertrauen und Handlungsspielraum, gewährt von der Unternehmensspitze? Ein eher romantischer idealisierender Wunsch. Selbstorganisation ist ein komplexes Geschehen, das Lernprozesse auf mehreren Ebenen erfordert und sollte deshalb mit Augenmaß eingeführt werden.

Wie wird aus einer guten Idee ein echter Erfolg?

Am Anfang stehen die Antworten auf folgende Fragen:

  1. Passen selbststeuernde Teams zu dem, was wir tun?
  2. Passen selbststeuernde Teams zu uns und zu der Art, wie wir denken und handeln?
  3. Glauben wir an die Funktionalität von selbststeuernden Teams und haben wir den Mut, die Geduld und die Disziplin sie wirklich zu implementieren?

 

Beantworten Sie diese Fragen mit ja, können Sie daran gehen, bewusst die passenden Formen von Selbststeuerung in ihrer Organisation zu implementieren. In der Selbstorganisation gibt es nicht das eine Modell, das immer passt. In den jeweiligen Systemen und Kontexten passen jeweils andere Modelle.

Was trägt dazu bei, dass ein selbststeuerndes Team funktional wird?

Sinn, ein attraktives gemeinsames Ziel und eine klare Aufgabenverteilung

Um die dauerhafte Mobilisierung der Produktivkräfte eines Teams zu ermöglichen, muss die Erfüllung der Aufgabe sowohl dem Team als Kollektiv auch dem Einzelnen einen Nutzen versprechen. Schlüssig aus übergeordneten und der Strategie abgeleiteten Zielen vermitteln Sinn, was wiederum zu einer höheren Selbstverpflichtung und Motivation führt. Das Team hat Freiheit über die Aufgabenverteilung und -durchführung. Teams sind funktional integriert. Verschiedene Menschen, die sich einig darüber sind, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, arbeiten vernetzt mit- und füreinander.

Stabile Rahmenbedingungen

Selbststeuerung bedeutet nicht jeder macht, was er will. Wie und welche Besprechungen es gibt, wie und wann Entscheidungen getroffen werden, dass und wie Feedback gegeben werden soll, wie mit Konflikten umgegangen wird, bedarf einer Regelung. Die Anforderungen an die Qualität der einzelnen Beiträge zum Bespiel sind ebenfalls klar vereinbart (durch Acceptance criteria, Definition of done), der Weg dahin ist frei gestaltbar. Rechte und Pflichten müssen eindeutig definiert sein. Auch die Grenzen der Selbststeuerung sollten diskutiert und vereinbart werden.

Teamzusammensetzung

Die Leistung in einem Team entsteht durch und in der Interaktion miteinander. Innovative Ideen werden oft an den Nahtstellen zwischen unterschiedlichem Wissen und Erfahrungshintergründen generiert. Die Fähigkeit der Einzelnen zu offener Kommunikation und Respekt vor der Unterschiedlichkeit und den Stärken der Anderen ist essentiell. Punktuelle Impulse von anderen Personen von außen sind ebenfalls hilfreich. Stars sind in selbststeuernden Teams in der Regel eher kontraproduktiv. Durch sie entstehen Unwuchten in Kommunikation und Interaktion.

Transparenz

Selbststeuernde Teams brauchen bereichs- und hierarchieübergreifenden Zugang zu Informationen. Das bedeutet auch Einblicke in vor- oder nachgelagerte Prozesse bzw. andere Teams.

Wahrnehmbare Führung

Selbstorganisation ohne Führung ist zum Scheitern verurteilt. Allerdings sieht Führung anders aus als in hierarchisch organisierten Strukturen. Sie ist geprägt durch das Zusammenarbeiten auf Augenhöhe und beruht auf Vertrauen und Verständigung. Ein gemeinsamer Denkrahmen verbindet soweit als möglich die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten.

Diese Art von Führung stützt sich, da die disziplinarische Weisungsbefugnis als Machtquelle entfällt, auf andere Quellen – zum Beispiel auf persönliche Autorität und Integrität, ein ausgewiesenes Expertentum oder auf ein gezieltes Networking. Diese Art von Führung (Fachterminus: laterales Führen) bedeutet mehr als koordinieren. Denn während Koordination primär auf ein Aufeinanderabstimmen von Interessen, Aufgaben oder Tätigkeiten abzielt, beinhaltet laterale Führung auch ein Einwirken auf andere Personen oder Organisationen, damit sie in eine gewünschte Richtung handeln. Zentrales Ziel von lateraler Führung ist also nicht das Aushandeln oder Vereinbaren tragfähiger Kompromisse, sondern das Erreichen der eigenen oder übergeordneten Ziele.

Fazit

Hierarchisch geführte Teams können schneller mit der Aufgabenerfüllung anfangen und benötigen weniger Zeit in der Abstimmung. In einem stabilen Umfeld oder bei unerfahrenen Teammitgliedern ist dies ein Ansatz, der nützlich und effektiv ist. Wenn es aber um ein komplexes Umfeld geht und wenn das Potential, Wissen und die Motivation der Teammitglieder optimal genutzt werden soll, lohnt sich der Aufwand, der erforderlich ist um selbststeuernde Teams zu implementieren, allemal.