Trigon Themen 1|2016

Radikale Erneuerung

Erneuerung in Organisationen: Drei radikale Fallbeispiele

Unternehmen sind dazu da, Regeln aufzustellen und sie konsequent einzuhalten. Manager sind angehalten, Risiken möglichst zu vermeiden. Innovationen hingegen benötigen Regelbrüche und provozieren Risiken. Wie damit umgehen?

Autonomes Team

In einem Handelsunternehmen ging es darum, die Filiale der Zukunft zu entwerfen. Das Top-Management beauftragte drei junge MitarbeiterInnen mit der Gestaltung einer Zukunftsfiliale.

Das Team erhielt frei verfügbares Budget und Zeit. Gleichzeitig wurde fixiert, dass keine der bestehenden Regeln des Unternehmens eingehalten werden müssen. Die einzige Auflage waren die gesetzlichen Vorschriften. Die Anweisungen und Interventionen der bestehenden Bereiche wie Vertrieb und Controlling wurden konsequent gestoppt und unterbunden. Innerhalb dieses weiten Rahmens konnte sich das Team völlig frei bewegen. Es konnte losgelöst von bestehenden Hierarchien und Vorschriften Ressourcen einsetzen, Neues denken, Verrücktes ausprobieren und über Versuch und Irrtum lernen. In diesem Fall durften sie auch selbst investieren und die Zukunftsfiliale erfolgreich realisieren und eröffnen.

Grafik 1: Autonome Teams

 

Etwa 30 Prozent der Neuerungen stellten sich als nicht brauchbar heraus und wurden wieder verworfen. Eine Reihe anderer, neuer Zugänge zur Filialgestaltung findet sich heute in allen Filialen des Konzerns.

Erfolgsfaktor in diesem Fall waren die vom Top- Management konsequent eingeräumten Freiräume und ein kleines Team von mutigen Mitarbeiter- Innen, die diese Rahmenbedingungen im Sinn des Unternehmens zu nutzen wussten.

Radikales Parallelsystem

Das Unternehmen mit 700 Mitarbeitern steht in öffentlichem Eigentum eines Bundeslandes. Die neue Geschäftsführung wollte einen Veränderungsprozess starten, weil es deutlich kritische Kundenrückmeldungen gab. Eine Befragung ergab, dass die Leistungen im Vergleich zu anderen Organisationen um 30 bis 40 Prozent teurer hergestellt werden und die Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse zu langsam und zu träge sind.

Die Arbeitssituation in einem ersten Workshop mit dem Managementteam gestaltete sich äußerst mühsam. Auseinandersetzungen mit den inhaltlichen Fragestellungen aus den Ergebnissen der Kundenbefragung waren zäh und ohne jedes Engagement. Bedeutend war, dass wir freitags zu Mittag Schluss machten. Ein Teilnehmer drückte es so aus: Es ist eigentlich egal, ob wir mehr oder weniger kundenorientiert sind. Es ist egal, ob wir ein besseres oder schlechteres Ergebnis erzielen. Wir sind ein Teil des Landeshaushaltes. Da spielt das nicht wirklich eine Rolle.

Diese Haltung Es ist egal… prägte die Kultur der gesamten Organisation. Hinzu kam, dass die Aufbauorganisation funktional strukturiert war. Die Zusammenarbeit über die einzelnen Funktionen (Silos) war hierarchisch organisiert.

Mit dem üblichen Repertoire der Organisationsentwicklung und Stärkung der Selbstverantwortung war diese Organisation nicht mehr veränderbar. Zu starre Regeln und zu wenig Bereitschaft waren gegeben, um irgendetwas konstruktiv zu bewegen oder zu verbessern. Es war egal…

Gemeinsam mit der Geschäftsführung wurden Vorgehensweisen überlegt, wie wir das System in Bewegung bringen könnten. Als Ergebnis wurde beschlossen, eine echte Parallelorganisation zu etablieren. Mit den Eigentümervertretern des Landes wurde vereinbart, dass 25 Prozent des Geschäftsvolumens in eine neue Gesellschaft verlagert werden sollten.

Grafik 2: Die Kraft von Parallelsystemen nutzen

 

Das neue Unternehmen sollte eine möglichst eigenständige Kultur entwickeln können. Keine der Regeln der Mutter musste übernommen werden. Die Führungsmannschaft der neuen Gesellschaft wurde neu vom Markt akquiriert. Vereinbart war darüber hinaus, dass das neue Unternehmen zumindest für zwei Jahre einen erheblichen Teil der Dienstleistungen bei der Mutter zukaufen musste. Danach sollte Wettbewerb und Markt möglich sein.

Diese Botschaft kam im alten Unternehmen an. Der bewusst geschaffene Wettbewerb und die Sorge, in zwei Jahren massiv Aufträge zu verlieren, wirkten wie eine kleine Krise und schafften die Voraussetzung für Veränderung. In der alten Organisation wurden die funktionalen Strukturen aufgeweicht, eine Prozessorganisation eingeführt, das Verhalten bewusster auf den Kunden ausgerichtet. Jetzt, vier Jahre danach, haben beide Unternehmen eine ähnliche Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit.

Der Erfolgsfaktor war hier die Entscheidung für ein echtes Parallelsystem und die Öffnung für einen internen Wettbewerb.

Selbstorganisation durch Freiräume

Der Schadensmanager einer Versicherung hatte an die IT-Abteilung eine Anforderung gestellt. Der Schadensabwicklungsprozess sollte mit mobilen Endgeräten so unterstützt werden, dass der Bericht, die Gutachten, Fotos, Stellungnahmen der Betroffenen etc. in einer Datei automatisiert zusammengefügt werden. Ein Schadensbericht sollte automatisiert bereits bei der Besichtigung des Schadens entstehen, ohne dass dieser im Büro intensiv nachbearbeitet werden musste. Gegenwärtig erfordert diese Nachbearbeitung pro Bericht einige Arbeitsstunden und es geht um tausende Berichte. Aus dem Anforderungsmanagement der IT-Abteilung kam die Antwort: Das kann vielleicht gehen. Es dauert mindestens zwei Jahre und ist mit Kosten von 150.000 Euro verbunden.

Im Rahmen des Innovations-Managementsystems des Konzerns erhält jeder Leiter einen völlig frei einsetzbaren Budgetposten. Dieses Innovationsbudget darf ohne jede weitere Prüfung oder Genehmigung für eine Neuerung im Unternehmen eingesetzt werden. Einzige Bedingung ist eine kurze Präsentation im Rahmen der Konzerntagung darüber, was mit dem Geld gemacht wurde. Im Fall des Schadenmanagers waren es in diesem Jahr 20.000 Euro, die er für Innovationen verwenden konnte. Die Auskunft der IT-Abteilung stellte den Verantwortlichen nicht zufrieden. Er überlegte, ob dieses Werkzeug nicht einfacher und schneller zu besorgen wäre. So beauftragte er ein Start-up-Unternehmen mit derselben Fragestellung, mit der er zwei Monate zuvor die IT-Abteilung befasst hatte. Um sicherzustellen, dass die Schnittstelle zur zentralen IT gewährleistet bleibt, holte er einen befreundeten IT-Manager dazu. Wichtig war, dass die IT-Abteilung informiert wurde und sicherstellte, dass es keine Schnittstellenprobleme geben würde. Ein eigenständiger Entwicklungsprozess mit dem Startup- Unternehmen startete. Vier Monate später wurde im Rahmen der Konzerntagung eine fertige, multiplizierbare Lösung für diese Frage präsentiert. Das Ergebnis: Kosten in Höhe von 18.000 Euro, also ein Bruchteil der ursprünglichen Summe und ein Viertel der Zeit.

Erfolgsfaktor ist hier ein intelligentes Innovations- Managementsystem, das an den richtigen Stellen Freiräume gibt.

Grafik 3: Freiräume schaffen – radikal

 

Wenn Unternehmen Innovationen wollen, müssen MitarbeiterInnen sich frei fühlen, etwas umsetzen und ausprobieren zu dürfen. Im obigen Fall brauchte es dazu drei Freiräume: Ein frei verfügbares Innovationsbudget, den Handlungsspielraum, ein Start-up beauftragen zu dürfen und die Selbstverantwortung, etwas ohne Auftrag zu initiieren.

Dies fordert Mut und bedeutet Risikoübernahme. Es hätte auch scheitern können. Wäre diese Initiative dann ein Fehler gewesen?

Literatur

Weiss, M. (Hrsg.) (Im Druck). Handlungskompetenz Innovation. Bern
Erscheint im Oktober 2016.

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