Trigon Themen 01|2022

Erfolgsfaktor Entscheiden

Entscheiden ist nicht gleich entscheiden

Klug, wer vorm Entscheiden den Blick aufs Ganze und den Kontext lenkt: Welches Vorgehen ist für diese Entscheidung nötig? Das Cynefin-Framework (1) von Dave Snowden et al. ermöglicht einen Meta-Zugang, um stimmig vorzugehen.

Es geht um nichts weniger als „die Gefordertheit der Lage“ 2  zu erkennen: Welche Umweltbedingungen habe ich? Kann ich mich auf Wissen stützen oder muss ich unter Nicht-Wissen und Unvorhersehbarkeit entscheiden? Wieviel Risiko liegt in welcher Entscheidung? Droht Chaos, wenn ich nicht sofort handle?

Noch zu oft

  • zücken Entscheider die üblichen Muster der Organisation, z.B: „Nur Zahlen zählen“/„Never change a running system“/ „Die lange Reise durch die Entscheidungsgremien“,
  • folgen sie unbewusst den eigenen persönlichen Glaubenssätzen, z.B.:„Stark sein heißt schnell entscheiden“ /„Gute Führung braucht vollständige Information“ / „Nur keine Unsicherheit zeigen“
  • halten sie sich an Ansätzen fest wie„Data-Driven Decision-Making“ /„Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl!“,

Solch ein Rückgriff auf vertraute Muster ist besonders gefährlich, wenn anstehende Entscheidungen gar nicht mehr mit früheren Erfahrungen bewältigbar sind.

Das Cynefin-Framework schafft hier Verständnis und Orientierung: Es besteht aus 4 Feldern, in de- nen wir uns mit einem Entscheidungsthema befinden können, und dem +1 (=5.) mittigen Bereich. Solange man nicht weiß, in welchem der 4 Felder man sich befindet, steckt man im 5. Feld – der Konfusion. Erkennt man dies, ist die allererste Aufgabe, mit einem Blick aufs Framework herauszufinden, in welchem Bereich sich das Thema befindet. Daraus entsteht ein Handlauf für das weitere Vorgehen.

Die zweite große Unterscheidung: Befindet man sich auf vorhersehbarem Terrain (Felder rechts) oder in unvorhersehbarem (Felder links)? Rechts kann man sich auf Fakten,  verlässliche Daten, berechenbare Rahmenbedingungen durch Erfahrung oder Analyse stützen. In diesen Räumen kann man nach „Best Practice“, bzw. „Good Practice“ (als eines unter vielen guten Verfahren) streben.

Im Feld „KLAR/EINDEUTIG“ sind Lösungen offensichtlich: Die Maschinen stehen still, weil der Strom ausgefallen ist. Das Problem ist somit kategorisiert – die nötige Entscheidung entsprechend klar: Notstromaggregat an bis zum Beheben des Stromausfalls.

Im Feld „KOMPLIZIERT“ sind viele Einflussgrößen möglich und es laufen vielfältige, teils langkettige Prozesse ab. Für Laien eine Black Box, aber für Expertinnen ist das Zusammenspiel durchschaubar, berechenbar, rational analysierbar: Die Maschinen stehen still, obwohl der Strom läuft. Schrittweise Fehlersuche – d.h. strukturierter Aufwand, aber kein Hexenwerk für die Spezialisten.

 

 

Organisationen arbeiten heute jedoch unter zunehmend unsicheren und ungewissen Bedingungen.

In den beiden linken Feldern im Framework sind Zusammenhänge von Ursache und Wirkung nicht ersichtlich, nicht eindeutig und nicht vorhersehbar. Sie können – wenn überhaupt – erst im Nachhinein verstanden und analysiert werden.

Im Feld „KOMPLEX“ sind viele Faktoren und ihre Wechselwirkung noch unbekannt, ebenso ist die Kenntnis dessen, was alles miteinander in Beziehung steht, erst rudimentär vorhanden.

Eine (scheinbar) gleiche Ausgangslage kann hier auch bei gleichen Interventionen unterschiedliche Ergebnisse erbringen. Solche Kontextbedingungen kann ich nicht mit einem Masterplan, einem groß ausgerollten Projekt, beherrschen. Stattdessen braucht es ein tastendes, explorierendes Vorgehen, ein multiperspektivisches Erfassen, ein intuitives Erspüren. Der hier gefragte Weg des Entscheidens bleibt offen für andere Möglichkeiten: Es geht um Entscheidungen auf Sicht, um reaktionsfähig zu sein, wenn unerwartete Ergebnisse eintreten. Das erfordert ein Sich-Öffnen für Unerwartetes, für schwache Signale. In diesem Feld liegt das Potential, dass sich Neues zeigt = emergiert, und sich so Schritt für Schritt Klarheit herausschält.

Ausgefeilte Projektpläne, schnelle Festlegungen auf eine Richtung hingegen sind riskant: Sie verengen den Blick und verhindern so das Erkennen von unvorhergesehenem Potential ebenso wie von Gefahren.

Ein Beispiel: In einem Change- Prozess von einer hierarchischen in eine agile oder in Teilen agile Organisation müssen nicht nur Prozesse und Rollen neu definiert und in Projekten ausgerollt werden (z.B. über Architekturen wie SAFe, Nexus oder Less oder Modelle wie Holacracy), sondern ein Veränderungsprozess mit und in den Menschen ermöglicht werden. Überall, wo Menschen wesentlich involviert sind, haben wir es mit „komplex“ zu tun.

Im Feld „CHAOTISCH“ brechen die Dämme einer vormals klaren Situation. Die Gefahr eines Zusammenbruchs ist real. Es bleibt weder Zeit für Analyse noch für Experimente. Schnelles Eingreifen, sofortiges Entscheiden erster Schritte ist Pflicht, um noch mehr Chaos zu verhindern. Manche Entscheidungen mögen dabei falsch sein, doch in jedem Fall schaffen sie Klarheit darüber, was zu tun ist.

Das Framewok dient nicht der Kategorisierung, sondern ermöglicht Zugang zu den Dynamiken in und zwischenden „Domains“. Es ermöglicht den Umgang mit Komplexität und zielt auf „Sense-Making“.

 

1 Cynefin (sprich: Künèvin) ist ein unübersetzbarer walisischer Begriff für „Lebensraum“ – zeit- und Individuums-überschreitend

2 s. Köhler, Wolfgang (1968): Werte und Tatsachen. Berlin/ Heidelberg/New York: Springer