Trigon Themen 02|2016

Selbststeuerung in Organisationen

Drei Wege in die Selbstorganisation. Und einer zurück.

Es gibt ganz unterschiedliche Herangehensweisen, mit denen sich klassisch hierarchische Organisationen in Richtung Selbstorganisation entwickeln können – und auch wieder zurück.

Nicht alle Organisationen, die mit Selbststeuerung erfolgreich sind, haben von Anfang an mit dieser Logik gearbeitet. Der damals selbstgesteuerte internationale Kraftwerksbetreiber AES (Umsatz 2015: 15 Mrd. US-Dollar) integrierte in den 1990er Jahren dutzende traditionell betriebene Kraftwerke. Bei uns geht das nicht! war die Reaktion, die der CEO dabei nach ausnahmslos allen Übernahmen hörte. Dennoch gelang die Integration. Ebenso ausnahmslos. Sogar in Kasachstan, wo eine Werksorganisation zuvor zehn Hierarchie-Ebenen aufwies. Der französische Automobil- Zulieferer FAVI war klassisch hierarchisch organisiert, bevor er 1983 von seinem legendären CEO Jean-François Zobrist radikal umgestellt und damit auf Erfolgskurs gebracht wurde. Der 1999 gegründete Online-Schuhhändler Zappos startete 2013 die Selbstorganisations-Plattform Holacracy in einem kleinen Pilotprojekt. 2015 folgte der Schritt in eine völlig Führungskräfte-lose Organisationstruktur. Für den Start in die Selbstorganisation gibt es eine Reihe von Voraussetzungen, siehe auch die Artikel von Brigitta Hager und Ingrid Kohlhofer in dieser Ausgabe. Sind die Voraussetzungen gegeben, haben sich in der Praxis höchst unterschiedliche Herangehensweisen für den Umstellungsprozess bewährt:

Variante 1: Umstellung am Stichtag

Sorgfältige Vorbereitung und dann das generalstabsmäßige Roll-out des neuen Systems an einem Stichtag stellt dabei eine Variante dar. Dieses Vorgehen ist insbesondere dann zielführend, wenn es schon viel Klarheit gibt, wie die konkreten Anforderungen, Rollen und Abläufe der selbstorganisierten Organisation aussehen werden. AES etwa kannte sein Geschäft bereits bestens und hatte eine lange Lernkurve hinter sich, als es die neu akquirierten Kraftwerke integrierte.

Variante 2: Musterbruch

Ein völlig anderes Vorgehen stellt der Musterbruch dar, in dem die neue Ordnung im kreativen Chaos innerhalb weniger vorgegebener Rahmenbedingungen entsteht. Bei FAVI war das zum Beispiel die ersatzlose Abschaffung der Stechuhren und der Arbeitsstunden-basierten Vergütung in der Produktion – ohne Plan B, ohne Ersatzkonzept. Mit dem überraschenden Ergebnis einer Qualitäts- und Produktivitätssteigerung, unter anderem, weil die Mitarbeitenden die Schichtübergaben überlappender und eigenverantwortlicher gestalteten.

Als Zappos CEO Tony Hsieh 2015 beschloss, den letzten Schritt in Richtung einer vollkommen flachen Hierarchie zu gehen, war einiges geplant und klar. Und doch müssen die meisten Antworten erst unterwegs gefunden werden, wenn Schritt für Schritt klarer wird, welche Fragen diese radikale Veränderung aufwirft. Hsieh sah zwei fundamentale Voraussetzungen für den Umstieg: (1) Kollegiale Kontrolle und Gruppendruck, um demVirus vorzubeugen, der sich rasch ausbreitet, wenn TrittbrettfahrerInnen ihre Umgebung demoralisieren. (2) Ein klarer Prozess für Konfliktlösung, der ebenso klar kommuniziert und von allen verstanden ist. Für beide Voraussetzungen wurden Antworten entwickelt, und zwar in einem sorgfältig begleiteten, partizipativen Prozess, in dem man deutlich kommunizierte, was in der bevorstehenden Veränderung bereits absehbar war – und was noch nicht. Wer bei alldem nicht mitwollte, konnte das Unternehmen zu großzügigen Bedingungen verlassen. 30 % der 1.500 Mitarbeitenden nahmen das Angebot im vergangenen Jahr an und verließen Zappo. Aus Sicht von Hsieh war damit auch eine dritte Voraussetzung für erfolgreiche Selbstorganisation geschaffen: Menschen, die das Prinzip mittragen und verstehen.

Variante 3: Bottom-up in Teilbereichen

Beide Zugänge – Roll-out und Musterbruch erfordern es, dass die obersten Entscheider die Logik von Selbstorganisation verstehen, wollen und kompromisslos vorleben können. Gleichzeitig gibt es auch in Organisationen Bestrebungen Richtung Selbstorganisation, in denen die oberste Führung noch meilenweit davon entfernt scheint. Einige Experten raten kategorisch davon ab, das Thema Selbstorganisation dann noch weiter zu verfolgen.

Es gibt jedoch eine Reihe von Beispielen dafür, dass Selbstorganisation auch in Teilorganisationen funktionieren kann: Etliche Einzelhandelsunternehmen experimentieren derzeit mit selbstorganisierten Verkaufsteams. Die weltweit größte Biosupermarktkette Whole Foods mit 90.000 Mitarbeitenden ist in allen rund 400 Märkten selbstorganisiert. Der Rest des Unternehmens ist traditioneller aufgestellt, zwar flach aber doch hierarchisch. Auch dm drogerie markt ermöglicht und erwartet ein bemerkenswertes Maß an Autonomie von seinen Filial-Mitarbeitenden, auch wenn es nach wie vor die Rolle einer Filialleitung gibt. GE Aviations in Durham ist ein weiteres Beispiel, aus einer völlig anderen Branche: 170 Mitarbeitende organisieren sich selbst, die formal verbleibende (einzige!) Führungskraft der Einheit regelt den Kontakt mit dem umgebenden Konzern.

Auch interne Dienstleister wie konzernale Organisations- oder Personalentwicklungseinheiten oder die IT-Bereiche nehmen immer wieder eine Vorreiter- Rolle ein. Die IT-Branche ist derzeit durch Konzepte wie Scrum und Agile ohnehin der bestimmende Treiber in Sachen Selbstorganisation.

Die Co-Existenz verschiedener Organisationslogiken unter einem Dach erfordert allerdings eine außerordentliche Übersetzungskompetenz an den Nahtstellen. Die obersten Manager dieser Teilorganisationen müssen nach oben und nach außen soweit begreiflich machen, was innen läuft, dass ihr Subsystem nicht abgestoßen wird. Gerade in der Übergangsphase kommt es hier nicht selten zu Zerreißproben.

Praxisbericht

Die erfolgreiche Bereichsleiterin eines Finanzkonzerns berichtet: Die neue Aufstellung und Zusammenarbeit innerhalb des Bereichs zu etablieren war die kleinere Herausforderung. Die Leute kannten meinen Stil schon eine Weile und waren hochmotiviert. Mit den Konzepten und Methoden von agilem Management machten wir uns in ein paar Workshops und mit einer Lernreise zu einem befreundeten IT-Unternehmen vertraut. Mühsam war die Kommunikation nach oben und mit manchen Stabsabteilungen. Auch wenn ich das grundsätzliche Vertrauen und Commitment für „mein Experiment“ hatte und habe, kommen permanent die alten Reflexe durch, wie der Wunsch Projektleitungen „von oben“ einzusetzen oder schnell einmal durchzugreifen, statt die Entscheidung im vereinbarten Prozess zu belassen. Auch das Bedürfnis des Konzerns nach einheitlichen job titles und einem hierarchischen Gehaltsgefüge passen nicht zu dem, wie wir mittlerweile tatsächlich arbeiten. Da gibt es Baustellen, die wahrscheinlich noch lange offen bleiben. Und trotzdem sprechen die Motivation der Leute und unsere Ergebnisse bislang klar für diesen Weg.

Ein Weg zurück

AES war mit Selbstorganisation 20 Jahre lang über die Maßen erfolgreich, half herkömmlich geführten Neuankömmlingen beim Umstieg – und wird mittlerweile dennoch selbst klassisch hierarchisch geführt: Das Jahr 2001 brachte das Platzen der Dotcom-Blase, 9/11 und die Enron-Pleite. Die Banken verweigerten AES bereits fest eingeplante Kredite. Plötzlich fand sich das Unternehmen in einer existenzbedrohenden Liquiditätsklemme. Der Aufsichtsrat drängte auf eine neue Führung. Fünf Jahre dauerte der Turnaround, in dem Bereiche wie Finance oder Business Development zentralisiert und andere, wie HR völlig neu eingeführt wurden – endlich, wie viele meinten.

Man mag die Entwicklung als Indiz dafür betrachten, dass in Krisensituationen das bewährte, entschlossene Durchgreifen von oben manchmal doch notwendig ist. Oder als Indiz dafür, dass uns Krisensituationen leicht regredieren lassen, uns anfälliger dafür machen, in alte, schlichtere Überlebensmuster zurückzufallen. Fest steht, dass der Turnaround geschafft wurde und AES heute wirtschaftlich betrachtet wieder auf überaus soliden Beinen steht.

Wer dem Konzept Selbstorganisation noch ambivalent gegenüber steht, mag sich vielleicht aus der Geschichte von AES eine gewisse Beruhigung mitnehmen: Zurück ins Altbewährte geht es vergleichsweise schnell.

Literatur

Feloni, R. (2015). Zappos CEO Tony Hsieh to employees: Embrace self-management or leave by the end of the month. http://uk.businessinsider.com

Gunther, M. (2009). AES’s powerful comeback. http://archive.fortune.com.

Laloux, F. (2014). Reinventing Organizations.

Zobrist, J.F. (2014). La belle