Trigon Themen 02|2017

Agilität und Augenhöhe

Selbstorganisation in einem DAX-Konzern

im Gespräch mit Klaus Polley

Die Deutsche Telekom IT hat vor eineinhalb Jahren begonnen, in einem Bereich mit rund 50 Mitarbeitenden, Holacracy einzuführen. Mittlerweile arbeiten im Konzern vier Bereiche und rund 200 Mitarbeitende mit dem System.

Klaus Polley ist Leiter des Bereichs BillPresentment bei der Deutschen Telekom IT und Trigon zert. Coach.

 

Trigon Themen: 1,5 Jahre Holacracy* in deinem Bereich – ein kurzes Zwischenfazit: Was hat es bisher gebracht?

  1. Polley: Wir sind einer der Bereiche, die den größten Mix aus verschiedenen Kulturen haben – verschiedene Fachgebiete, Aufgabenbereiche und verschiedene Nationalitäten. Die sind heute zusammengeführt und verstehen sich bei allen Unterschiedlichkeiten als Einheit. Wir haben eine gemeinsame Ausrichtung, mehr Kommunikation und ein Mehr an Verständnis füreinander.

TT: Das klingt erfreulich. Hat das denn auch messbare Vorteile? Was ist der konkrete Business Case?

  1. Polley: Als ich das Team vor fünf Jahren übernommen habe, waren wir unter den kritischsten 10% der Gesamtorganisation. Heute sind wir unter den Top 15%. Das beinhaltet Aspekte wie Einsparungen, technische Effizienz ebenso wie ein agiles Zusammenarbeiten mit der Fachseite. Unsere Umsetzungsgeschwindigkeit liegt heute in den wesentlichen Prozessen beim drei bis fünffachen dessen, wo wir vor wenigen Jahren standen. Analog dazu ist die Zufriedenheit unserer internen Ansprechpartner gestiegen.

TT: Alles wegen Holacracy?

  1. Polley: Nein, Holacracy löst ja per se noch keine Probleme. Es zeigt sie nur auf. Und schafft dann einen Rahmen für effiziente, gesamtverantwortliche Lösungen.

TT: Was hat Dich bewogen, als einer der allerersten in einem DAX-Konzern mit Selbstorganisation zu beginnen?

  1. Polley: Die Logik kam meinem Führungsstil entgegen. Als fachfremde Führungskraft im IT-Bereich war für mich schnell klar: Ich muss die Verantwortung in fachlichen Entscheidungen den Mitarbeitern überlassen und sie damit zu einer gewissen Selbstständigkeit ermutigen. Vor allem, weil damals erwogen wurde, einen großen Teil unserer Leistungen nicht mehr an unseren Bereich, sondern an einen externen Partner zu vergeben. Wir hatten sozusagen die Pistole auf der Brust.

TT: Und in dieser Situation ein Experiment mit Selbstorganisation? Ganz schön mutig, oder?

  1. Polley: Ich habe mich ja bewusst für Holacracy entschieden. Das schien mir damals am weitesten entwickelt. Damit war die Einführung auch kein sonderlich gewagtes Experiment, sondern einfach die Umsetzung eines ausgereiften Systems.

TT: Hättest du als Fachfremder mit deinem Führungsstil nicht auch ohne Holacracy gute Führungsarbeit machen können? Wozu dieser Aufwand?

  1. Polley: Wahrscheinlich wäre das noch 10 Jahre so gegangen. Ich habe mich bloß gefragt, wie lange möchte ich als Einzelkämpfer unterwegs sein? Kann ich Eigeninitiative und Eigenverantwortung rascher und systematischer in die Organisation bringen?

TT: Braucht es dafür eine bestimmte Grundhaltung und Reife der Organisation bzw. der Mitarbeitenden?

  1. Polley: Ja, das braucht es. Wichtig scheint mir aber, dass sich das im Gehen entwickeln kann und wird. Das Argument Unsere Leute sind da noch nicht soweit scheint mir wenig hilfreich.

TT: Wie sieht diese Grundhaltung aus?

  1. Polley: Eine innere Verbindung zum Sinn und Zweck des großen gemeinsamen Ganzen. Die Bereitschaft, für meinen Teil darin voll einzustehen und ihn immer wieder zu hinterfragen. Bereitschaft, inhaltliche Spannungen zu benennen und konstruktiv aufzulösen.

TT: Und das entwickelt sich einfach so „im Gehen“? In der Telekom?

  1. Polley: Ja, Schritt für Schritt. Nur von einfach war nie die Rede. Viel Einsatz und Konsequenz braucht es schon.

TT: Sind Menschen da nicht sehr unterschiedlich? In dem Sinn, dass sich manche mit Selbstverantwortung und der Bereitschaft, für sich und ihren Beitrag einzustehen, leichter tun als andere?

  1. Polley: Klar. Die meisten von uns sind Spannungsvermeider. Eine zentrale Idee von Holacracy dagegen ist: Wenn ein Prozess, eine Rolle, eine Vereinbarung nicht mit der Realität zusammenpassen, entsteht eine Spannung und das ist erst einmal hilfreich. Wenn solche Spannungen auf den Tisch kommen, zeigen sie, wo wir die Organisation weiterentwickeln müssen. Ich bin als Mensch ein Sensor. Natürlich fällt es Menschen unterschiedlich leicht, das zu artikulieren. In einer herkömmlichen Organisation weiß ich im Normalfall gar nicht, wohin mit dieser Spannung.

TT: Und bei Holacracy?

  1. Polley: Holacracy gibt ein klares Ablaufschema für Meetings und die Behandlung von Spannungen vor. Unsere Erfahrung ist, dass es dadurch auch für weniger Eloquente und Extrovertierte leichter wird sich einzubringen, und zwar wesentlich leichter. Insofern trägt schon das Format an sich zu mehr Augenhöhe bei.

TT: Das Modell Holacracy kümmert sich ja ganz konsequent nur um Inhalte, Rollen und formale Entscheidungsprozesse. Die soziale, zwischenmenschliche Seite bleibt ganz bewusst außen vor. Reicht es aus deiner Sicht aus, nur die Strukturen und Prozesse zu ändern, und dann kommt die Einstellung mehr oder weniger von alleine?

  1. Polley: Nein, für sich genommen reicht das nicht – und zwar in keiner Organisationsform. Das Zwischenmenschliche ist wichtig. Natürlich helfen mir da mein Hintergrund in der Organisationsentwicklung und meine Ausbildung als Trigon-Coach.

TT: Inwiefern?

  1. Polley: Zum einen in der Kommunikation zwischen den Menschen. Hier braucht es Beziehungsräume, die Holacracy nicht im Standard anbietet. IT-ler tun sich mit Check-in-Runden zu Beginn von Meetings und der Frage Wie geht’s mir heute? schon schwer. Trotzdem liegt ein wesentlicher Hebel darin, dass die Leute miteinander können und sich in der neuen Organisationsform auch als Mensch wiederfinden. Wie ich da – als ehemalige Führungskraft – reingehe und dass ich den Leuten tatsächlich auf Augenhöhe begegne, ist in der Anfangszeit die halbe Miete. Das ist eine Frage der Grundhaltung, aber eine geschulte Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit hilft natürlich.

TT: Und zum anderen?

  1. Polley: Zum anderen – und das hängt eng miteinander zusammen – hat mir der Coaching- Lehrgang geholfen, über mich selbst nachzudenken:

Wer bin ich eigentlich selbst? Was will ich in die Welt bringen? Was sind meine Stärken? Der Austausch mit hochkarätigen Leuten, das hochwertige Feedback, der ganze Prozess, das hat mich schon weitergebracht. Selbstorganisation zuzulassen ist für Führungskräfte immer eine Frage des Egos: Wie geht es mir damit, dass ich irgendwann mal nicht mehr der Entscheider bin, nicht mehr über anderen stehe und dann vielleicht auch das Risiko eingehe, ein kleineres Auto zu fahren?

TT: Was wäre dein wichtigster Hinweis für Führungskräfte, die es dir nachmachen wollen?

  1. Polley: Erstens: Hänge es nach außen bzw. im Konzern nicht gleich an die große Glocke und spare dir dadurch unnötige Irritationen. Das ist wie beim Abnehmen. Rauszuposaunen: Ab morgen mach ich die neue XY-Diät! wäre weniger mein Zugang als einfach zu beginnen und die Ergebnisse für mich sprechen zu lassen.

Zweitens: Rede mit verschiedenen Leuten, die schon Erfahrung haben. Schau gut darauf, was zu dir und deiner Organisation passt. Holacracy ist da sicher nicht der allein seligmachende und einzige Zugang. Das Thema Selbstorganisation entwickelt sich permanent weiter. Das Netzwerk ist unglaublich offen. Wir sind nicht mehr die einzigen. In der Telekom gibt es mittlerweile vier Bereiche, die Swisscom ist stark unterwegs in dem Thema, Baidu (das chinesische Google) setzt darauf, bei Daimler tut sich Einiges …

Drittens: Lass dich professionell begleiten. Viertens: Trau dich und leg los.

TT: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Literatur

* Holacracy ist ein detailliert ausgearbeiteter Ansatz für Selbstorganisation von Brain Robertson. Mehr auf: http://www.holacracy.org