Trigon Themen 03|2021

Emergenz: Das Entstehende sehen und nutzen

Emergenz begreifen, spüren und fördern

In diesem Beitrag wird Ken Wilbers Holon-Modell vorgestellt, das Emergenz system-theoretisch erklärt. Es wird weiters die Anwendung dieses Modells für die Beratung skizziert und schließlich werden anhand des U-Prozesses von Otto Scharmer Hinweise gegeben, wie Emergenz gefördert werden kann.

Das Auftauchen neuer Qualitäten oder Muster eines lebenden Systems wird „Emergenz“ genannt. Es handelt sich dabei um eine Eigenschaft des Ganzen, die nicht aus seinen Teilen abgeleitet werden kann. Emergenz ist der Prozess und das Resultat der „Autopoiese“, der Selbsterneuerungskraft lebender
Systeme. Holon – eine neue Sicht der Wirklichkeit „Die Wirklichkeit stellt sich aus heutiger Sicht als gewaltige hierarchische Ordnung organisierter Systeme dar. Diese hierarchische Strukturierung und Kombination zu Systemen von immer höherer Ordnung ist für die Wirklichkeit insgesamt kennzeichnend.“ Dieser systemischen Sicht wird Wilber durch den Begriff Holon gerecht: „Die Wirklichkeit … ist weder aus Ganzen zusammengesetzt, noch hat sie irgendwelche Teile. Sie besteht vielmehr aus Ganzen/Teilen. Die Wirklichkeit besteht aus Holons“. (1)

An Holons sind vier Tendenzen zu erkennen:

  • Selbsterhaltung (Autonomie). Das ist die Fähigkeit lebender Systeme, ihre Ganzheit zu wahren. Sie zeigt sich als facettenreiches Vermögen der Selbsterhaltung.
  • Selbstanpassung (Verbundenheit). Als Teil eines umfassenderen („höheren“) Systems besitzen Holons die Fähigkeit, sich auf andere Systeme  einzustellen und sich anzupassen.
  • Selbsttranszendenz. Damit ist Emergenz gemeint, bei der eine Transformation stattfindet und ein anderes Ganzes entsteht. „Hier kommt etwas  Schöpferisches ins Spiel; selbsttranszendierende Systeme sind das Vehikel der Evolution für qualitativen Wandel.“ (2)
  • Selbstauflösung. Was durch Emergenz aufgebaut wird, kann auch wieder zusammenbrechen. Es kann für ein System aber auch sinnvoll sein, einen Schritt zurück zu treten und die vorherige Entwicklungsstufe „nachzureifen“. Befindet sich z.B. eine Organisation in einer überreifen Pionierphase und will diese (zu) schnell in die Integrationsphase, so wird es notwendig, die erforderliche Differenzierung nachzuholen.

 

 

 

 

 

In der Abbildung sind die vier Tendenzen eines Holons so zusammengefügt, dass sich ein horizontales (Translation) und ein vertikales Spannungsfeld (Transformation) ergibt.

Praktische Anwendung

In OE-Prozessen ist dieses Modell hilfreich, weil es auf einige „Gesetzmäßigkeiten“ hinweist, die für soziale Systeme maßgebend sind. Die Betrachtung der Organisation als Holon macht auf die verschieden Systemebenen und die Interdependenzen der relevanten Holons aufmerksam. Wird z. B. im Holon „IT-Abteilung“ ein OE-Prozess gestartet, so geht es wesentlich auch darum, die „niedereren“ Holons, die bestehenden Teams „IT-Infrastruktur“, „Softwareentwicklung“, „Internet“ und „Helpdesk“ zu einem „gesunden“ Ganzen zu integrieren und gleichzeitig sich dem „höheren System“ „Services“ anzupassen und den Beitrag zum Ganzen zu leisten. Wesentlich erscheint, wie die Interaktion zwischen dem Holon IT-Abteilung mit dem höheren Holon Services und mit den niedrigeren Holons, den Teams, gestaltet wird. Gewährt das jeweils höhere Holon dem niedrigeren ausreichend Autonomie und sind die niederen Holons bereit, jenen Beitrag zu leisten, der dem höherem Holon ermöglicht, eine gute Integrationsleistung zu erzielen. Wilbers Modell beschreibt, welche Kräfte im Holon wirken. Es regt an, die Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit zu diagnostizieren und weiter zu entwickeln. Eine pathologische Autonomie bewirkt Entfremdung, eine pathologische Verbundenheit bewirkt Verschmelzung. Diese archetypische Polarität steht stellvertretend für andere Polaritäten. Die Arbeit an weiteren relevanten Polaritäten erzeugt Veränderungsenergie und bewirkt Translation („horizontale Entwicklung“), die sich als wichtige Voraussetzung für Emergenz erweist. (3)

Wie kann Emergenz gefördert werden?

Scharmer gibt in seiner „Theory U“ Hinweise, wie Emergenz gefördert werden kann. Er nennt Emergenz  Presencing“ und versteht darunter, „sich mit der Quelle der höchsten Zukunftsmöglichkeit zu verbinden und diese Wahrnehmung in die Gegenwart zu bringen“ (3). Presencing ist der dritte Schritt am tiefsten Punkt des „U“, an dem er auffordert: „Allow Your inner knowing to emerge“. Es geht also um inneres und nicht um analytisches Wissen, es geht um Intuition. Die Schritte davor (Seeing und Sensing) und die dafür wichtigen Haltungen (Innehalten, Umwenden und Loslassen) sind Voraussetzungen, dass Emergenz gelingt.

Aus diesen Hinweisen wird deutlich, was Emergenz fördert. Rationale Prozesse allein bewirken keine Emergenz. Es bedarf intuitiver, künstlerischer und kontemplativer Methoden. Nur dadurch kann sich zukünftiges Potenzial zeigen, das
in der Gegenwart emergiert. Emergenz ist eine Ganzheitswahrnehmung, die nur „durch das Zusammenwirken von sinnlicher und geistiger Wahrnehmung gelingen kann. (4)

 

1 Wilber zitiert hier den Systemwissenschaftler von Bertalanffy: Wilber, 2006, S. 75
2 Wilber, K. (2006) Eros, Kosmos, Logos – Eine Jahrtausend- Vision. Frankfurt a.M.
3 Glasl, F. & Lievegoed, B. (2021) Dynamische Unternehmensentwicklung. Bern
4 Scharmer, C.O. (2009) Theorie U – Von der Zukunft her führen. Heidelberg