Trigon Themen 03|2021

Emergenz: Das Entstehende sehen und nutzen

Emergenz fördern durch syntaktische Prozessgestaltung

Können Bedingungen für Emergenz zieldienlich gefördert werden? Eine syntaktische Prozessgestaltung ermöglicht ein inhaltlich ergebnisoffenes und planbares Vorgehen, mit dem es gelingen kann, die im Gesamtsystem wirksamen Kräfte zu nutzen und gleichzeitig Emergenz zu fördern.

Wirksame Organisationsentwicklung (OE) balanciert mehrere Spannungsfelder, wenn sie nachhaltig erfolgreich sein will:

  • Klare Zielsetzungen – Ergebnisoffenheit
  • Wirkungsvolle Ergebnisse – Erhöhung der Selbsterneuerungsfähigkeit
  • Planbarkeit– offener Prozess mit neu auftauchenden Fragestellungen
  • Klare Vorgaben und Rahmen- bedingungen – Einbezug von Mitarbeitenden und Stakeholders

Eine zentrale Herausforderung in der OE liegt darin, weder mechanistisch vorzugehen, mit der Gefahr, co-kreative Lösungen durch zu enge Zielräume und Vorgehensweisen zu verhindern, noch vollkommen offene Prozesse zu gestalten, von denen zu Beginn niemand weiss, wohin sie führen. Aus unserer Erfahrung sind für die Balancierung dieser Spannungsfelder Formate und Modelle hilfreich, die Räume schaffen, in denen alle Themen und Fragestellungen eingebracht und sortiert werden können, während sie gleichzeitig Orientierung und Prozess-Sicherheit ermöglichen, ohne jedoch Ergebnisse vorwegzunehmen oder auszuschliessen, bzw. Möglichkeitsräume für Innovation verbauen. Modelle und Formate, die diesen Kriterien entsprechen, basieren auf logischen oder archetypischen Grundstrukturen und sprechen tiefere Schichten des menschlichen Bewusstseins an – sie sind einerseits leicht und intuitiv zu verstehen, andererseits sind sie vielschichtig und reichen tief. Mit diesen Modellen und -Formaten kann «syntaktisch» gearbeitet werden: Sie bieten jeglichen Inhalten Raum und Orientierung, ohne selbst auf spezifische Inhalte angewiesen zu sein.

Für die Gestaltung emergenzförderlicher Beratungsprozesse eignen sich syntaktisch anwendbare Formate und Modelle deswegen besonders, weil sie eine Struktur und  damit Sicherheit für den Prozess bieten, und gerade dadurch die Offenheit schaffen, die Emergenzen einlädt. Viele der Konzepte von Trigon Entwicklungsberatung (Ganzheitliches Systemkonzept der sieben Wesenselemente, Entwicklungsphasen von Organisationen, sieben Basisprozesse der OE, U-Prozedur und weitere) entsprechen genau diesen Gesichtspunkten: Sie ermöglichen Orientierung und Sortierräume, in denen alle Fragestellungen offen eingebracht werden und Lösungen emergieren können. Auch die Theorie U von C. Otto Scharmer bietet einen solchen Prozessrahmen, was wir am folgenden Fallbeispiel kurz darstellen (Scharmer, C.O. (2009) Theorie U – Von der Zukunft her führen. Heidelberg).

                                                                        Theorie U

Wie können wir unsere Identität und Werte zeitgemäss weiterentwickeln und mit dem Umfeld verbinden?

Diese Frage stellte sich eine werteorientierte Klinik mit rund 500 Mitarbeitenden kurz vor ihrem 100. Geburtstag. Es bestand die Notwendigkeit, die Werte und das Verständnis des medizinischen Ansatzes zeitgemäss neu zu greifen, und gemeinsam mit möglichst vielen Mitarbeitenden in einem gemeinsamen Prozess auf den Punkt zu bringen für die weitere kräftige Entwicklung der Identität der Klinik nach innen und aussen. Es war klar, dass der Prozess zu dieser Fragestellung Antworten und konkrete Ergebnisse liefern sollte; offen war, wie diese genau aussehen würden – sie sollten im gemeinsamen Arbeiten emergieren.

Wir legten diese Identitätsentwicklung als einjährigen U-Prozess an, an dem sich rund 300 Mitarbeitende direkt beteiligt haben. Wir gehen an dieser Stelle aus Platzgründen nicht auf die komplexe Prozessarchitektur mit verschiedensten Organen und Workshopgruppen ein. Jedoch wollen wir deutlich machen, dass wir die Struktur des U-Prozesses mit seinen zentralen Qualitäten nutzten, um einen orientierungsgebenden Rahmen zu bieten, in dem alle Themen – Hoffnungen, Wünsche, Sorgen, Konflikte, Bedürfnisse und organisationalen Bedarfe – Raum finden konnten und der bei aller Ergebnisoffenheit Planungssicherheit gewährleistete.

Der U-Prozess enthält im Wesentlichen sieben zentrale Schritte mit Prozessqualitäten, die jedoch je nach Kontext eines U-Prozesses kreativ instrumentiert und ausgestaltet werden müssen, um einen erfolgreichen emergenten Prozess zu ermöglichen. Diese Schritte haben wir über ein Jahr hinweg mit verschiedenen Gruppen und Formaten so ausgestaltet, dass in jedem einzelnen Schritt Neues emergieren konnte. So fanden im Seeing Lernreisen zu anderen wertorientierten Unternehmen ebenso statt wie kurze Workshops mit verschiedenen Berufsgruppen, in denen die Teilnehmenden assoziativ und aus ungewohnten Blickwinkeln ihren Arbeitsalltag betrachteten und sich einbringen konnten. Aus beiden Elementen dieses Seeings entstanden völlig neue und überraschende Erkenntnisse und Fragen. Diese wurden dann im Sensing in weiteren kurzen Workshops über sozial-künstlerische Arbeit mit szenischen und Farb-Methoden verdichtet, vertieft und vor allem ganzkörperlich erfahren, so dass nochmals neue Aspekte und davor nicht fokussierte Themen auftauchten. Für das Presencing – dem Scheitelpunkt des U-Prozesses – sind wir mit einer Querschnittsgruppe für drei Tage an einen für diese Organisation bedeutsamen Ort gefahren, wo alles im Prozess davor Entstandene in Verbindung mit der Architektur, der besonderen Atmosphäre und Ausstrahlung des Ortes zusammen zu tiefen Erlebnissen und Gesprächen führte, was wirkliche Inspiration und plötzliche, stimmige Klarheit zur Fragestellung bewirkt hat. Schon auf dem Rückweg hat daraufhin das Crystallizing begonnen – die Umsetzungsideen sprudelten nur so aus der 30-köpfigen Querschnittsgruppe. Ein paar Wochen später standen die ersten Prototypen und Umsetzungsideen, die dann in der Klinik in allen Abteilungen und Teams breit diskutiert wurden. Die Frage nach der Identität, dem Selbstverständnis und den Werten in zeitgemässer Form konnte mit klaren und für alle stimmigen Formulierungen beantwortet werden, was sich sowohl nach innen über Veränderungen in Arbeitsprozessen und Funktionen auswirkte als auch nach aussen hin, was Auftritt und Kommunikation angeht.

Die syntaktische Struktur des U-Prozesses hat einen planbaren Prozess ermöglicht, der allen Inhalten Raum geboten hat, und aus dem stimmige Ergebnisse emergieren konnten, die vor dem Prozess in dieser Form weder erwartet wurden noch möglich gewesen wären.